Gefühle auf der Flucht

Wo seid ihr? Warum verlasst ihr mich? Ihr, die mir als Kind die sichere und ruhige Nachtruhe gegeben habt, die mich die neugierige Freude auf den nächsten Tag spüren ließet, und mir ein Schuld-freies Leben geboten habt. Ich weiß, irgendwie habe ich euch nicht gepflegt und gefördert -nein, es war bestimmt kein schönes Zuhause bei mir. Ich glaube, ich habe euch stiefelterlich behandelt, bevormundet, ja manchmal  sogar versteckt. Und dabei war es so  schön, wenn wir miteinander gespielt haben, aufregend und lehrreich, manchmal geradezu umwerfend. Wegen euch konnte ich zeitweise nicht essen, nicht schlafen, nicht denken -  nur spüren, fühlen: Sinnlichkeit.

Dann wurde mir erklärt und ich wurde belehrt,   dass ich durch euch den Begriff “Sinn”lichkeit wohl falsch verstanden habe – es muss alles einen “Sinn” haben. Einen logischen Sinn. Ich wurde zwiegespalten und habe in euer Haus  einen Mitmieter, den Verstand, hinein gelassen. Ich weiß, ihr habt euch nicht vertragen und ich habe sehr darunter gelitten. Insbesondere als ich bemerkte, dass sich der Verstand immer “breiter” machte. Ihr wurdet in die Ecke gedrängt. Manchmal habe ich das  Gefühl (immerhin, so etwas ist noch da!), ich habe euch nur noch Asyl gewährt, obwohl ich doch eure Heimat war.

Bitte kommt zurück! Ich fühle mich so alleine, mir ist so kalt,  die “Wohnung” ist so lieblos ein”gerichtet”. Ich will mit euch die Farben sehen und in mich einlassen, die Sonnenstrahlen fühlen und spüren, wie auch ein kalter Winterabend erwärmend sein kann. Mit euch den Regen auf der Haut spüren, mich mit euch hin-geben,  jetzt und hier und mich  auf den Morgen aber auch auf das Morgen freuen. Ich habe dem Mitmieter gekündigt, und ihn als Dienstboten versetzt. Die Wohnung ist frei, frisch gestrichen, farbenfroh und hell. Lasst uns “sinn”- los  Sinnenhaftes tun.

Beeilt euch bitte – allzu viel Zeit verbleibt mir nicht mehr.

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Datum: Montag, 11. Oktober 2010 12:05
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14 Kommentare

  1. 1

    Wenn du nach so langer Zeit und sicher auch nach vielen Kämpfen dem Mitmieter nun endlich gekündigt hast, brauchst du nur noch eins zu tun…lass sie ohne Angst zu die Gefühle, und deine Welt wird bunt und wundervoll.

    Liebe Grüße von Christina

  2. 2

    Wünderschön und berührend geschrieben. Gott sei Dank weiß ich, von dir schreibst du hier nicht. Dafür hast du hier schon viel zu viel gefühlvolles und romantisches von dir gegeben. Das würde ja nicht passen, und das beruhigt mich.

    Lieben Gruß von
    Waltraut

  3. 3

    Lieber Hans, das was du du hier so bewegend beschreibst hört sich sehr wehmütig an. Entweder du schreibst über einen Hans, den es früher einmal gab, oder über jemanden der dir sehr nahe steht.Wenn du es warst, hast du die Zeit Gott sei Dank überwunden. Jedem anderen wünsche ich, dass er es bald schafft, er wäre sonst wirklich ein ganz armes und zu bemitleidendes Würstchen.

    Herzliche Grüße von Silvi

  4. 4

    Gefühle verlassen einen niemals. Man schüttet den ganzen Müll seines Lebens auf sie, bis sie nicht mehr zu spüren sind. Dennoch sind sie immer da. Wenn man sie wieder zurück möchte, muss man etwas tun. Man muss sie mit aller Gewalt freischaufeln. Das kann man nur selbst.
    Dazu gehört Mut, aber man schafft es. Wenn man wartet dass sie von alleine wieder kommen, wartet man vergebens, und man bringt sich um so vieles.

    Schönen Tag wünscht ein ehemals Betroffener,
    der jetzt weiß was er viele Jahre versäumt hat.
    Meine Schaufel war eine Frau, die einfach so lange mit mir gegraben hat, bis wir die Gefühle befreit hatten. Ich wünsche dem, den du beschreibst das gleiche.

  5. 5

    Sehr gut beschrieben Hans.

    Menschen, die keine Gefühle zulassen, sind wirklich zu bedauern. Es ist so als würden sie ständig im Schatten leben. Sie haben noch nie die Sonne gesehen, weil sie ständig alle Jalousien herunter gezogen haben, denn sie haben Angst das Licht herein zu lassen. Sie sind innerlich einsam und allein. Wenn sie wüßten wie schön es im Sonnenschein ist, würden sie mit ihren Jalousien ein Freudenfeuer veranstalten. Das müssen sie begreifen lernen.

    Einen schönen Abend!
    Broddi

  6. 6

    Du hast sehr anrührend beschrieben, wie jemand verzweifelt nach seinen Gefühlen ruft. Sie sind doch aber da, stets präsent. Wenn man sie eiquartieren möchte in die neue farbenfrohe Wohnung muss man natürlich die Tür aufmachen, und zwar ganz weit….

    LG Klaus

  7. 7

    Oh je wie schrcklich! Wenn die Gefühle irgenwo und irgendwie abhanden gekommen sind, ist der betroffene Mensch doch sicher auch nicht liebesfähig. Das ist grausam. Etwas Schlimmeres kann ich mir fast gar nicht vorstellen. Da braucht so ein Mensch doch Hilfe, jemanden an seiner Seite, einen Freund/in mit einer Schaufel in der Hand oder einen Hammer für die Mauer. So wie Carlo das beschrieben hat. Hast du sehr anschaulich beschrieben Hans. Ich bin froh, dass du es nicht bist. Sonst gäbe es die ganzen schönen, romantichen Sachen nicht.

    Schönen Abend wünscht Johanna

  8. 8

    Lieber Hans!Stell diesen “Mieter”als “Hausmeister” ein…eine “Aufgabe” braucht jeder!!!Da kommt ER wenigstens nicht auf “dumme Gedanken”!Was du da ausgegraben hast,ist es wert,gepflegt zu werden!!!!Liebe Grüße von Helga

  9. 9

    Einem Menschen den man liebt seine Gefühle zu offenbaren, Gefühle empfangen, es gibt nicht schöneres. Ich kann mir das anders auch gar nicht vorstellen. Wer Gefühle nicht zeigen oder zu lassen kann, der muss doch ein ganz armer Tropf sein, und ganz furchtbar einsam. Schreckliche Vorstellung für mich.

    Ein freundliches Hallo von Andre

  10. 10

    Ich kann das sehr gut nachempfinden. Ich konnte auch keine Gefühle zeigen und auch nicht zulassen. Erst mit Hilfe eines Menschen der mich so liebte wie ich war, ist es Stück für Stück möglich geworden diese Fessel abzustreifen. Mittlerweile sehe ich die Welt mit ganz anderen Augen, viel heller und farbenfroher. Ich fühle mich als wäre ich neugeboren. Heute weiß ich, dass ich mich in mein eigenes Gefängnis gesperrt hatte. Alleine hätte ich mich nie daraus befreien können. Ich bin meinem Freund ewig dankbar, dass er nie aufgegeben hat.

    Herzliche Grüße von Karla

  11. 11

    Das ist wirklich ein hartes Schicksal, wenn man gefühlsmäßig “tot” ist. Hat man denn dann noch Lebensfreude? Kann ich mir nicht vorstellen. Der, der da nach seinen Gefühlen schreit ist echt ein armes Würstchen. Hoffentlich findet er auch jemanden mit einer Schaufel.
    Diesen Zustand hast du super beschrieben Hans.

    LG Florian

  12. 12

    Beim lesen deiner Zeilen kriegt man Mitleid mit so einem Menschen. Er scheint ja zu wissen was ihm fehlt und es quält ihn. Ich bin auch der Meinung alleine packt er das nicht. Er braucht dringend jemanden der ihm hilft. Entweder einen Psychiater oder einen sehr sehr guten Freund. Ich denke diese Menschen vereinsamen sonst innerlich, und das ist bestimmt grausam.

    Gruß André

  13. 13

    Ich denke du berichtest hier nicht über dich, denn das würde nicht zu den anderen Sachen passen, die du geschrieben hast. Das beruhigt mich. So wie du das “gefühllose” hier schilderst, bin ich jetzt doch froh, dass ich manchmal im Überschwang zu viel Gefühl zeige.

    Schönen Abend von Karlchen

  14. 14

    Bist du sicher, dass der Mitbewohner wirklich weg ist? Vielleicht ist er versteckt und getarnt doch noch übermächtig da!!!??

    LG vom Rolf

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